„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“ _Johann Wolfgang von Goethe

Montag, 25. Oktober 2021

Das Leuchten der Geschichte

“Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nutzt, ist eine schwere Last.”
_Goethe, Faust I

Wer das Stiftsgebäude an der Oberdorlaer Kirche nur als alte Bruchbude wahrnimmt, der schaut nur, aber er sieht nicht. Der sieht nicht das Leuchten der Geschichte.
 
Das Stiftsgebäude von Südwesten aus gesehen am 10.10.2021
Das Stiftsgebäude von Südwesten aus gesehen, am 10.10.2021. Foto: Michael Zeng

Aber was leuchtet da?

Dieser Artikel möchte zeigen, was aus dem Stiftsgebäude leuchtet, nämlich eine große Vergangenheit. Um das Stiftsgebäude schwirren viele Begriffe: Archidiakonat, Archidiakon, Propst, Propstei, Sedes, Erzpriester, Stift, Stiftskirche, Chorherren. Der Artikel möchte die Begriffe einfangen, erklären und leuchten lassen. Dabei werden die modernen Ortsnamen verwendet. Entwicklungen werden zusammengefasst, die oft mehrere Jahrhunderte dauerten. Wichtig ist hier das Große und Ganze. Die große Geschichte gleicht einem Mosaik, das zusammengesetzt werden muss. Und immer wieder finden sich neue Steinchen.
 

Das Stiftsgebäude

Das heutige Gebäude an der Kirche ist der Westflügel einer Gruppe von Gebäuden, die früher zum Stift gehörten.  Das Gebäude hat einen Keller. Die anderen Gebäude wurden ab Mitte des 16. Jahrhunderts abgerissen. Nach der Reformation hatte das Stift keine kirchliche Bedeutung mehr.

Das heutige Stifsgebäude von Osten aus gesehen am 10.10.2021. Foto: Michael Zeng

Die Gebäude des Stiftes umschlossen einen Innenhof, um den ein sogenannter Kreuzgang führte. Der Kreuzgang war ein mit Arkaden überdachter Gang, von dem aus man die anderen Gebäude betreten konnte.

Die Gebäude des Stiftes bildeten immer eine bauliche Einheit mit der Kirche. Die heutigen Gebäude entstanden in der Mitte des 13. Jahrhunderts.

Einfluss auf Standort und die bauliche Gestaltung von Stift und Kirche kann eine runde Burganlage gehabt haben, die sich vor der Errichtung des Stifts am Bauort befand. Der Anger, die Brauhausstraße, die Tränkgasse und Am Wasser könnten die Lage der alten Rundburg markieren. Das muss aber noch bewiesen werden. Stifte wurden allerdings sehr oft in alten Burganlagen angelegt.

Die runde Burganlage war wahrscheinlich die sogenannte Altenburg, wo Graf Wigger von Bilstein residierte. Er gilt als Erbauer der Kirche und als Stifter des Chorherrenstiftes. Auch schenkte Graf Wigger den Vogteiern ihren Hainichwald. Mindestens bis 1333 hieß die Vogtei allerdings noch Mark Dorla. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ein anschaulicher Artikel über Kirche und Stift findet sich in den Mühlhäuser Beiträgen, Heft 10, von 1987, Seite 15 bis 25. Autor ist der berühmte Mühlhäuser Denkmalpfleger und Heimatforscher Rolf Aulepp. Auf diesen Artikel sei hier verwiesen. Dort finden sich viele Fakten und Angaben zur Baugeschichte.

Das Archidiakonat

Das Stiftsgebäude in Oberdorla war Amtssitz eines Archidiakons. Was bedeutet das?

Ein Archidiakonat war eine Untereinheit in einem Bistum, so wie Landkreise Untereinheiten eines Bundeslandes sind.

Das Archidiakonat von Oberdorla reichte vom Ringgau im Westen  bis zur Unstrut im Osten und Norden. Der Ringgau liegt zwischen Eschwege und Herleshausen. Die Südgrenze bildete das Flüsschen Nesse. Die Nesse fließt von Erfurt aus durch den nördlichen Kreis Gotha in die Hörsel bei Eisenach.

Einem Archidiakonat stand ein Archidiakon vor. In geistlichen Dingen war ein Archidiakon der Stellvertreter des Bischofs, der im Mittelalter wegen der oft großen Entfernungen im Bistum seine Aufgaben am Ort nicht wahrnehmen konnte. Unsere Region war weitgehend Wildnis. Die Archidiakone waren in der Praxis genauso wichtig und mächtig wie Bischöfe und traten am Ort in Konkurrenz zu den jeweiligen Bischöfen, die weit weg residierten. 

Das Archidiakonat von Oberdorla gehörte zum Erzbistum Mainz. Die Ebene zwischen Erzbistum und Archidiakonat war das Bistum. Zu welchem Bistum das Archidiakonat von Oberdorla wann gehörte, soll hier nicht behandelt werden. 

Die Archidiakonate waren unterteilt in Bereiche, denen je ein Erzpriester vorstand. Diese Bereiche wurden "Sedes" genannt. Erzpriester waren eine Art Oberpfarrer, die für mehrere Pfarrer und deren Gemeinden verantwortlich waren. Im Archidiakonat von Oberdorla saßen die Erzpriester in Oberdorla selbst, in Behringen, Creuzburg, Falken, Heringen, Mihla und Röhrda. 

Gleichzeitig war der Archidiakon auch der Verwaltungsleiter seines Archidiakonats. Er organisierte die Einnahme der Kirchensteuern und anderer Abgaben. Der Archidiakon durfte Recht sprechen und war der Vorgesetzte der Erzpriester und Pfarrer im Archidiakonat. Die Erzpriester mussten dem Archidiakon regelmäßig Bericht erstatten. 

Zu einem Archidiakonat gehörte eine zentrale Kirche, so wie ein Dom zu einem Bistum gehört.

Der Vorgängerbau der heutigen Oberdorlaer Kirche und der heutige Bau waren die Hauptkirche des Archidiakonats. Das Gotteshaus wurde 987 erstmals erwähnt. 

In Oberdorla war der Archidiakon auch Propst des Chorherrenstiftes. Was bedeutet das?

Das Chorherrenstift

Ein geistliches Stift ist eine kirchliche Institution mit eigenen Gebäuden, Liegenschaften und Angestellten, die einer geistlichen Gemeinschaft, einer Körperschaft, gestiftet wurden. Die Stifte wurden vom Stifter ausgestattet mit Rechten, Besitz und Privilegien, die Einnahmen brachten. Stifter sollten selbstständig lebensfähig sein.

Eine Körperschaft, eine geistliche Gemeinschaft, denen ein Stift gestiftet wurde, konnten sogenannte Chorherren sein. Es gab auch ähnliche Einrichtungen für Frauen.

Wer waren die Chorherren?

Die Chorherren waren weltliche Geistliche auf Zeit. Sie lebten, wohnten und arbeiteten gemeinsam im Stift. Diese Gemeinschaft hatte große Ähnlichkeit mit dem Leben in einem Kloster.

So organisierten die Chorherren ihre Gemeinschaft oft nach der Klosterregel des Heiligen Augustinus von Hippo. Auch mussten sich die Chorherren eine Tonsur, die Mönchsglatze, scheren lassen und bestimmte Prüfungen für niedere kirchliche Ämter bestehen.

Im Gegensatz zu Mönchen konnten die Chorherren aber jederzeit aus der Gemeinschaft austreten, ohne Strafen befürchten zu müssen. Sie mussten nur formell ihren Austritt erklären. 

Der Name Chorherren kommt daher, weil diese Männer das Recht hatten im Chorraum zu sitzen. Der Chor war ein bestimmter hervorgehobener Abschnitt im Kirchenschiff katholischer Kirchen. Die Chorherren von Oberdorla saßen immerhin im Chor der Hauptkirche eines Archidiakonats. Die alte Stiftskirche war aber so beeindruckend, dass in Mühlhäuser Quellen die Oberdorlaer Chorherren bezeichnet wurden als "thumherren zue Dorla", "thumpropiste", und "official in Dorla". Es waren also wichtige Würdenträger in der Region.

Das Stift im heutigen Oberdorla wurde Ende des 10. Jahrhunderts gestiftet und bestand bis 1472. Wenige Jahre später wurde das Stift nach Langensalza verlegt. Die Stadt gehörte damals zu Kursachsen mit Dresden als Hauptstadt. In Langensalza saß der sächsische Amtmann, eine Art Landrat, der auch für die Vogtei zuständig war. 

Der Leiter der Chorherren hieß Propst. Der erste urkundlich erwähnte Oberdorlaer Propst hieß Embrico. Er wurde 1093 als Zeuge in einer Urkunde genannt. Im Zusammenhang mit dem Oberdorlaer Stift werden folgende weitere Amtsträger genannt: Dekane, Scholaren, Kantoren und Vikare. Es herrschte also ein reges geistliches Leben am Stift mit vielen Ämtern und Verantwortlichkeiten.  

Im Mittelalter galt ein Rechtsgeschäft, wie ein Verkauf, eine Schenkung, ein Vertrag oder ein Urteilsspruch nur durch die Anwesenheit von Zeugen. Diese wurden dann in der Urkunde zum Rechtsgeschäft genannt. Im Mittelalter waren die Zeugen wichtiger als das Schriftstück. Die Pröpste und Chorherren von Oberdorla wurden oft in Urkunden als Zeugen genannt. Das zeigt ihre Bedeutung. 

Eine Urkunde von 1223 bezeugt die Schlichtung eines Streits zwischen dem Stift Oberdorla und dem Peterskloster in Erfurt. Es ging um die Einnahmen der Pfarrstelle in Falken. In dieser Urkunde wird Niederdorla erstmalig erwähnt. 

Das Stift und das Opfermoor

In den ersten Jahrhunderten der Christianisierung unserer Region sind Opfergaben am Opfermoor belegt. Das bedeutet, es gab keine Altäre mehr, aber Menschen opferten noch ihren alten Göttern.

Es kann davon ausgegangen werden: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Opfermoor und dem Sitz des christlichen Archidiakons und des Chorherrenstiftes in Oberdorla. 

Die Germanen wurden von oben zum Christentum gebracht, das heißt, zuerst traten die germanischen Könige, Herzöge und Adligen zum Christentum über. Den Untertanen wurde das Christentum befohlen. Das führte zu Widerstand. Zum Schure, aus Trotz, opferte das Volk oft weiter den alten Göttern. Wir kennen das. Weiter wurde auf Holz geklopft gegen böse Geister und Toi Toi Toi gewünscht. Viele Bräuche wurzeln noch in heidnischer Zeit.

Die Kirche wusste, mit Gewalt allein konnte das Volk nicht bekehrt werden. Deshalb brachten die Chorherren der Region Wissen und Know-how, Gewusst-wie, aus Westeuropa. Dort schöpfte man aus dem Wissen der alten Römer und Griechen.

So wurde in Mitteleuropa die Landwirtschaft verbessert. Unseren Vorfahren wurde gezeigt, wie Wintergetreide angebaut wird und Obstbäume und Kräuter kultiviert und angebaut werden. Landwirtschaft und Gartenbau brachten nun mehr Ertrag, als für den Eigenbedarf nötig war. Das war neu.

Vorher bauten die Germanen Sommergetreide an, jede Familie für sich. Früchte und Kräuter suchten die Germanen im Wald. Mönche und Chorherren zeigten, wie man Plantagen und Gärten anlegt für Obst, Gemüse und Kräuter, die vorher nur wild wuchsen.

Mit den Verbesserungen in der Landwirtschaft konnten die Bauern mehr ernten, als sie für ihre Ernährung brauchten. Mit den Erträgen der Landwirtschaft konnten Handwerker, Adlige und Geistliche ernährt werden. So konnten Städte und eine höfische Gesellschaft entstehen, deren Einwohner von Politik, Krieg, Handel und Gewerbe leben konnten oder als Künstler oder Gelehrte die Kultur entwickelten. Die höfische Kultur des Adels wurde möglich durch eine starke Landwirtschaft. 

Neben dem Gewusst-wie für Landwirtschaft und Gartenbau brachten die Chorherren und Mönche damals moderne Werkzeuge und Techniken für Handwerker und Künstler in unsere Region. 

Mönche und Chorherren hatten Zeit und Muße, Obst, Gemüse und Kräuter anzubauen und planvoll zu züchten und mit der Verarbeitung zu experimentieren. Nicht umsonst sind Gebäck-, Wein-, Schnaps- und Biersorten aus Klöstern bis heute berühmt. Nicht umsonst entdeckte ein Mönch die Gesetze der Vererbung. Der Entdecker Gregor Johann Mendel war Abt eines Klosters der Augustiner-Mönche.

Noch heute fließt flüssiges Gold aus Hopfen und Malz in der Probstmühle, die einst für die Chorherren arbeitete. Ein Prosit dem Mühlenverein. Sehr zum Wohle.

Das Stift in Oberdorla gab der germanischen Elite der Region die Möglichkeit, Bildung zu erwerben, um in der neuen christlichen Welt voran zu kommen. Das Stift machte unsere Vorfahren fit für das Mittelalter, fit für die neue Zeit.

Die Errichtung des Oberdorlaer Chorherrenstiftes war der Beginn einer neuen Zeit, die bis heute andauert. Das Opfermoor stand von nun an für das Alte.

Opfermoor und Stift gehören zusammen. Ohne Opfermoor gäbe es kein Stift in unserer Gegend. Das ist sehr sehr wahrscheinlich. Beide, Opfermoor und Stift, stehen für die große Bedeutung unserer Gegend in der Vergangenheit. Hier war schon immer ein Zentrum, das weit leuchtete und Bedeutung hatte.

Unsere Vergangenheit leuchtet aus den Mauern des Stiftes. Wenn wir das wissen, schauen wir nicht nur, wir sehen auch.

Michael Zeng, Vogteier und Historiker